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Ich bin glücklich!

Um ehrlich zu sein, große Lust hatte ich nicht. Nach einer Klausurveranstaltung noch einen Umzug machen. Aber ich wußte, die beiden jungen Familien werden es alleine nicht regeln können. Keine von beiden hatte ein Auto und noch schwerer für sie war, einen Anhänger zu organisieren. Angeschlagen war ich immer noch ein wenig. Und doch kam mir immer wieder die “Goldene Regel” in den Sinn, aus Liebe dem anderen das zu tun, was ich mir auch von ihm in seiner Situation stehend getan gewünscht hätte.
So holte ich einen Anhänger und fuhr mit drei Männern - alles aus Syrien stammend - in eine Nachbarstadt, um dort ein Sofa abzuholen. Das Ecksofa, in vier Teile zu zerlegen, stand natürlich oben in der vierten Etage. Wir mühten uns ab, es auf den Anhänger zu laden. Es gelang. Auf der Rückfahrt erfuhr ich eine Menge über die jesidische Religionsgruppe, der zwei der Männer angehörten. Zum Essen konnte ich nicht mehr bleiben, so gab’s Tuppertöpfe voller leckerer orientalischen Spezialitäten.
Nach einem weiteren Termin am Abend - der zweite Umzug. Ein junges Paar war in unsere Stadt gekommen. Sie standen vor dem totalen Nichts. Was sie besaßen war allein eine geborgte Schlaf-Couch.  Zwei Häuser galt es anzufahren, in denen wir wunderbare Möbel erhielten. Ich hoffte, um 22 Uhr fertig zu sein. Aber schon bald merkten wir, dass der Arbeitsaufwand deutlich höher sein würde, als geplant. Und dazu mußten alle Möbel in die dritte Etage! Immer wieder sah ich bei den Autofahrten mein eigenes Gesicht im Rückspiegel des Wagens. "Du bist unendlich geliebt!" sagte ich mir leise zu. Und dennoch: In meinem Herzen spürte ich auch Unwillen. Warum konnten nicht auch andere Leute diesen Menschen helfen? - Ein älterer Untermieter schaute unwillig - aufgrund der späten Störung im Hausflur - aus seiner Wohnung. Anstatt zu helfen äußerte er sein Unverständnis über die späte Aktion. Immer neu sagte ich meinem Herzen: “Antworte nur aus Liebe! Verwandle so diesen Schmerz in Liebe!” Nicht lange vor Mitternacht waren wir fertig. Als wir den Anhänger zurück brachten, wartete der Verleiher noch auf uns und half uns beim Einparken. Der junge Mann, für den ich all das hatte tun können, sagte mir kurz bevor wir uns verabschiedeten: “Wissen Sie, ich war heute nach dem Tod meines Vaters vor über 4 Jahren das erste Mal wieder in der Messe! Die hat mich total angesprochen. Denn ich hab gemerkt, dass das, was wir da feiern, ja total mit unserem Leben zu  tun hat!”
Als ich mich von ihm verabschiedete, spürte ich all meine Knochen, eine große Müdigkeit und in meiner Seele einen tiefen Frieden. Ich hatte viele Augenblicke des Tages nutzen können, wirklich zu lieben!

Was sollte das heute für ein Tag werden...? Chaotisch hatte er begonnen... Viel war schon in ziemlich knapper Zeit zu regeln gewesen. Als ich dann endlich in der Praxis ankam, traf mich fast der Schlag: Kein Stuhl war mehr frei im Wartezimmer, die Mitarbeiterinnen schienen arg in Bedrängnis zu sein, aufgrund der vielen Anfragen und die Stimmung erschien mir relativ gespannt. Na prima! Und das vor dem Hintergrund, dass ich um 12.30 h schon wieder im OP sein musste. Leichte Aggression und Hektik spürte ich in mir aufsteigen... So konnte das nicht gehen. Also habe ich mir ganz bewusst das heutige Tagesmotto noch einmal klar gemacht: (Mk 3,7-12)" Entdeck den lebendigen Jesus im Nächsten und berühr IHN". Sofort wurde ich gelassen und habe ganz froh mit der Sprechstunde begonnen! Was soll ich sagen? Sie lief irgendwie wie von selbst und die Stimmung im gesamten Team wurde schnell entspannt. Wir waren sogar fast pünktlich fertig.Eine Helferin bemerkte staunend: "Woher nehmen Sie die Kraft, so intensiv und behutsam mit jeder Patientin zu sein?" Dann bin ich eilig zum OP gefahren und habe mich recht hektisch umgezogen. Dabei bemerkte ich leider nicht, dass die OP- Mütze ziemlich schief auf meinem Kopf sass. Erst als ich im Waschraum in den Spiegel sah, musste ich doch grinsen. Wie gut, dennoch, geliebte Tochter zu sein und diese Liebe dann so weiter geben zu können!

Gesundheitlich war ich ein wenig angeschlagen, aber immer wieder kam er mir in den Sinn. Einen schweren Schicksalsschlag hatte er zu verkraften - von jetzt auf gleich einen Menschen gehen zu lassen, der ihm sehr vertraut war - noch viel zu jung. Ich rief an. “Ich denk immer wieder an dich! Sollen wir uns mal wieder sehen? Heut abend hätt’ ich Zeit!”  - “Ja, das paßt gut!” Wenige Stunden später saßen wir zusammen - bei einem heißen Tee. Ohne lange zu warten, sofort waren wir mitten drin. Normalität? - Na klar, äußerlich mußte sie irgendwie gelingen und auch wieder beginnen, aber immer wieder kam sie, die Trauer, wie eine Welle, mitten im Alltag. Wir sprachen über die Wirk-lichkeit unserer Seele, über die Zeit, die sie braucht, über den Raum zum Trauern den sie braucht. Er beschrieb alles, was ihn bewegte. “Tja, und dann steh ich da am Grab. Schnee war gefallen. Irgendwie wirkte alles so friedlich! Und doch, was konnte und sollte ich machen! Ich hab dann die Schleifen ein wenig vom Schnee befreit. Und bei all dem... liefen meine Tränen!”
Ich war so tief bewegt, von diesem Mann, mehr noch, von diesem Bruder der Menschheit. Er nahm sich und seinen Weg und all seine Fragen und Nöte total ernst, verschwieg nichts, stellte sich allem und fand und findet darin seinen Weg. Diese Gewissheit spürte ich tief in meiner Seele.  Zum Ende beteten wir gemeinsam - ein Vater unser und dann noch ein paar aus meiner Seele kommenden Dankesworte an den, der sich wieder neu unter uns ereignet hatte. - Ja, es ist und bleibt so schwer, loszulassen, die Karten des Lebens neu zu mischen, es bleibt ein Weg der Tränen, aber in all dem schenkte sich wieder neu eine Nähe, die nach oben offen war.

Nur kurz würden die Besuchspunkte sein können, denn das enge Zeitraster unseres Besuches ließ nicht viel Zeit zu. Dennoch wollten wir es wagen. Schon früh waren wir auf dem Weg zum Flughafen - der Hinflug war nur mit einem Zwischenstopp möglich. Winterliche Verhältnisse ließen den Anschlussflug schon vor Abflug fast unmöglich erscheinen. Aber vielleicht galt ja die Verzögerung auch für die späteren Flüge. Niemand konnte uns genauere Auskunft geben. So flogen wir...
Als wir ankamen war der Anschlussflug schon weg. Es galt an einem Infoschalter den weiteren Verlauf der Reise zu planen. Dort standen hunderte von Menschen in einer Schlange. Ob wir an diesem Tag noch am Zielort ankommen konnten, war nicht klar. Geduldig warteten wir, bis wir an der Reihe waren. Mit einer Flughafenmitarbeiterin checkten wir alle vernünftigen und unvernünftigen Möglichkeiten, unser Ziel noch heute zu erreichen. Es kam der Punkt, da wir einsehen mußten: “Rien ne va plus!”
Die erste Möglichkeit ergab sich für den nächsten Tag und dann hätten wir nur einen Tag für all die Begegnungen und Arbeitsvorgänge gehabt. Und ob am nächsten Tag die Wetterverhältnisse  einen Flug zuließen, stand auch in den Sternen. Was war vernünftig? Was war Gottes Idee für diese Augenblicke? “Du bist mein geliebter Sohn!” kam mir in den Sinn.  Und diese Liebe auch denen zu zeigen, die auf uns warteten, das war unser einziger “Motor”?  Wir entschieden uns für die Buchung am nächsten Tag. "Danke für Ihre freundliche Unterstüützung!" sagte ich der Mitarbeiterin am Schalter! "Gerne, ist doch selbstverständlich! Aber dass Menschen trotz dieser Widrigkeiten noch DANKE sagen, ist nicht selbstverständlich!" erwiderte sie.
Am späten Nachmittag des Folgetages erreichten wir unser Ziel. Jeden Augenblick der wenigen Stunden - bis tief in die Nacht hinein - nutzten wir für Besuche und Planungen. Immer sollte die (uns) geschenkte Liebe Antrieb unseres Tuns sein.
Als wir wenige Stunden später wieder in unserem Land sind, erreichen mich zwei SMS: “Danke Euch für den Besuch und die Freundschaft. Danke, dass Ihr trotz der Wetterverhältnisse gekämpft habt und gekommen seid!” - In der zweiten lesen wir: “Danke für Euren Besuch, es hat uns sehr gefreut, euch zu sehen... Vor allem Danke für das kurze persönliche Gespräch. Deine Worte haben meine Seele in schwerer Zeit sehr entlastet! Toll, dass ihr da wart!”
Was für ein Geschenk: Jeden Morgen die Botschaft: “Du bist mein geliebter Sohn!” und diese Botschaft weiterleben und weitergeben zu können!