Ich bin glücklich!
Es hatte begonnen zu regnen. Wir hatten zwei Mütter mit ihren durchnässten Kindern ins Pfarrbüro gebeten, um ihnen vor dem Regen Schutz zu bieten. Eine der beiden schaute mich mit großen Augen an und sagte: „Sie sind doch Pastor – oder?“ Ich lächelte und antworte: „Ja klar und was für einer!“ – Lachend erwiderte sie: „Ich kenne sie. Wir sind uns schon einmal begegnet und irgendwie war das ganz kostbar. Das kommt gerade alles in meinem Herzen wieder hoch und ich spüre, wie bewegt ich bin! Und dankbar! Ich hab den Wunsch, auch wieder zur Kirche zu kommen…“ Dann zeigte ich ihr und ihrer Freundin unser Tiny House im Garten und erzählte von dem Projektweg navi4life, der jungen Leuten ins Leben hilft. „Toll, dass Sie so etwas machen! Das brauchen wir so sehr! Irgendwie ist das auch noch mein Thema!“ Dann verabschiedeten wir uns. Als ich die beiden jungen Mütter eine Stunde später auf einem Kinderspielplatz sah, brachte ich ihnen noch eine Schokolade und das Logbuch 1: Mein Leben – windschief und glänzend. Voller Freude schaute sie mich an und ließ mich wissen: Wir sehen uns bald wieder, ich komme zum Tag der offenen Tür am Tiny House.
Als Kind war sie von ihrem Vater nie wirklich geliebt worden. Das hatte sie tief verletzt und in ihrer Seele klein gehalten. Nun war der Schulabschluss geschafft. Sie hatte sich ein wertschätzendes Zeichen ihres Vaters gewünscht, der ihre Familie schon lange verlassen hatte. Vergebens. Ihr Großvater hatte das alles miterlebt. Er hatte selber lange gebraucht, seine eigene Vater-Beziehung zu verarbeiten. Auch ihm waren als Kind viele Demütigungen zugemutet worden. Ein Gespräch zwischen Opa und Enkelin ergab sich. Der alte Mann nahm sich sehr einfühlsam viel Zeit. Er begann zu erzählen, wie schwer es für ihn gewesen war, in eine gesunde Distanz zu seinem Vater zu kommen, die ihm geholfen hatte, seelisch auf die eigenen Beine zu kommen. Geduldig hörte die junge Frau zu. Sie spürte, die Liebe ihres Großvaters und sie verstand, wie wichtig der Weg der Aufarbeitung für ihn gewesen war. So lange wie er, wollte sie in ihrem Leben nicht warten. Sie entschied sich, Hilfe zu holen.
„Und weißt du schon, was du nach der Schule machen willst?“ frage ich eine Schülerin, die kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit steht. „Keine Ahnung!“ - „Hast du schon eine Idee, wo du mal ein Praktikum machen könntest, was dich interessiert? – „Keine Ahnung!“ – „Wäre dann vielleicht ein FSJ für dich eine willkommene Zeit, um etwas Neues kennen zu lernen?“ – „Keine Ahnung!“
Diese Begegnung ergab sich während der Libori-Tage am Tiny House vor dem Domturm in Paderborn. Ich war längere Zeit im Gespräch mit dieser jungen Frau geblieben und hatte versucht, ihr Perspektiven aufzuweisen, die ihr weiterhelfen könnten, in ihr Leben zu starten. Als das Eis, auf das ich sie eingeladen hatte, fast aufgegessen war, hatte sie mich angeschaut und gesagt: „Weißt du, wenn ich ehrlich bin, möchte ich gar nicht erwachsen werden. Ich habe Angst davor!“
„Toll, dass Sie so engagiert und profiliert für diese jungen Menschen unserer Zeit unterwegs sind und sich so viel Zeit nehmen für sie und hier in Paderborn auf Libori stehen!“ ließ uns am nächsten Tag Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz verstehen. Er war gekommen, um sich über das Netzwerk go4peace und den Projektweg navi4life zu informieren. So stellten wir ihm im Schnelldurchlauf 9 Module vor, die wir anbieten, um jungen Menschen zu helfen, ins Leben zu finden. Dazu gehören die drei Logbücher Mein Leben – windschief und glänzend, Mein Glaube – bunt und stürmisch und Mein Weg – lückenlos und kurvenreich, und weiterhin drei Erläuterungs- und Vertiefungs-module. „Und wie ist das alles entstanden?“ wollte Erzbischof Bentz wissen.
Ich erzählte von einigen Begegnungen mit Jugendlichen, in denen immer wieder das Gefühl des Verlorenseins ins Gespräch kam. Trotz – oder gerade wegen einer Überfülle an Möglichkeiten und wegen eines hohen Perfektionsdrangs, alles gut und richtig machen und nur das Beste wählen zu wollen, fühlen sich viele junge Menschen verloren und überfordert. „Und auf diese Lebenswirklichkeit junger Menschen, durch die ja Gott zu uns spricht, reagieren wir mit der Projektlinie navi4life!“ ließ ich Erzbischof Bentz wissen. „Ich muss jetzt schnell zum Mittagsgebet in die Bartholomäus-Kapelle, aber ich komme gleich nochmals wieder, denn ich habe noch ein paar Fragen!“ sagte er.
„Das ist wirklich ein Projekt, um jungen Menschen zu helfen, in ihr Leben zu finden! Ich bin tief beeindruckt! Nochmals DANKE für Ihre Arbeit und Ihre Zeit!“ ließ Erzbischof Bentz das kleine Team von go4peace wissen, das über eine halbe Stunde Zeit mit ihm geteilt hatte.
Einen Tag zuvor hatten wir in der Marktkirche in Paderborn ein beeindruckendes Dialogkonzert leben und erleben dürfen. Amelie Held aus New York hatte auf fünf Interviews mit jungen Menschen mit je einem Stück aus der Orgelliteratur geantwortet. Wenn auch die Orgel in der Marktkirche keinen adäquaten Rahmen bot, ihr wirkliches Können zu zeigen, so holte sie doch all das aus dem Instrument heraus, was möglich war und bestärkte damit die jungen Protagonist*innen für ihren Weg. Im Interview hatte Amelie ein Zitat des berühmten Dirigenten Mariss Jansons ins Wort gebracht: „Wenn Gott einem Talent geschenkt hat, muss man sich durch harte Arbeit dafür bedanken!“ Dass sie hart gearbeitet hatte, wurde bei allen von ihr intonierten Orgelstücken deutlich.
Auch Amela Mraja aus Graz (geboren in Albanien), Julian Odelga aus Wuppertal, Filmon Hagos aus Dortmund (geboren in Eritrea) und Viktoria Kosmalla aus Braunschweig nahmen die Zuhörenden mit auf ihre Lebenswege. Jeder hatte viel riskiert, galt doch das Wort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! „Ich bin bei einer Prüfung drei Mal durchgefallen und hatte nur noch eine Chance, sonst hätte ich in mein Heimatland zurückgehen müssen. Ich hab ganz viel gelernt und wirklich alles riskiert!“ ließ sich Amela in die Seele schauen.
Filmon erzählte, wie er als junger Flüchtling in Deutschland eine zweite Mutter gefunden hat. Eine junge Afghanin, die mit einer älteren Freundin zum Konzert gekommen war, hatte die gleiche Erfahrung gemacht. „Als ich bei dem Orgelstück von Johann Sebastian Bach Wenn wir in höchsten Nöten seien meiner Freundin leise gesagt habe ‚Wie bei uns!‘ kamen uns beiden die Tränen.“ Abends schrieb mir die Freundin der Asiatin: „Eine junge, verletzliche Frau war als Flüchtling aus einer anderen Welt zu uns gekommen. Gott hatte sie mir an mein Herz gelegt! Während des Orgelkonzertes spürten wir diese tiefe Verbundenheit. Es war einer dieser Momente der Ewigkeit, in der Jesu Nähe so intensiv spürbar war, dass ich ihn nie vergessen werde.“
Nach dem Konzert schrieb eine Zuhörerin: „Was für ein Geschenk, dieses so gelungene Dialog- Konzert! Es bleib für mich ein unvergessliches Erlebnis! Die Orgelvirtuosin Amelie Held verdient ihren Namen vollkommen zurecht, und die Lebensgeschichten der fünf jungen Leute waren beeindruckend und berührend. Dazu die einfühlsame Moderation, alles in allem ein Gesamtpaket, das Balsam für die Seele war. Vielen Dank für diesen besonderen Nachmittag!“ Am Ende des Konzertes gab’s für jeden noch einen leuchtend roten Schuhanzieher mit der aufgedruckten Botschaft. „Steh auf und geh los!“
Über 3000 Begegnungen haben wir am Tiny House erleben und viel Lob für die Logbücher hören dürfen. Viel Leidvolles und Hoffnungsvolles ist uns anvertraut worden. Neue Kontakte zu Lehrern und Lehrerinnen, die uns mit dem Projekt navi4life an ihre Schulen holen wollen, sind geknüpft worden. Ebenso stehen ein Besuch in einem Jugendgefängnis und bei einem Polizei- Kommissar, der mit straffällig gewordenen Jugendlichen arbeitet, an. Gott ist am Werk, das können wir wieder neu bezeugen. Er nimmt uns als Sauerteig für eine Welt, die Sehnsucht nach echtem Leben hat und ER ist das Leben (vgl. Joh 14,6). Sein Ideen-Reichtum toppt den unsrigen immer wieder!
Als wir nach 10 Tagen „auf Libori“ Paderborn wieder verließen, sah ich vor meinem inneren Auge den Blick des Mädchens, die mir anvertraut hatte: „Ich habe Angst davor, erwachsen zu werden!“ Zugleich fiel mein Blick auf den Schuhlöffel im Wagen mit der Aufschrift: „Steh auf und geh los!“ Ich betete für die Schülerin, dass sie den Mut findet, aufzustehen und loszugehen, denn nur so verwirklicht sich (lückenlos) der Titel des Logbuches 3: Mein Weg – lückenlos und kurvenreich.
Libori 2024 - Vorankündigungen
Ungezählten Menschen hatten wir vor unserem Tiny House auf dem Libori-Fest in Paderborn einen Friedensstift geschenkt. Mein Blick fiel auf ein junges Mädchen, das Pommes essend auf einer steinernen Treppe saß. Mit einem Lächeln im Gesicht ging ich zu ihr, hielt ihr einen Friedensstift hin und sagte: „Beim Pommes-Essen kommen immer die besten Friedensgedanken. Und hier ist ein Stift, mit dem du all diese Gedanken auf die Serviette schreiben kannst.“ Lächelnd nahm sie den Stift entgegen. Einige Minuten später kam sie zu mir und überreichte mir strahlend ihre Serviette auf den sie geschrieben hatte: „Frieden bedeutet z.B., dass ich Pommes essen kann und es genug Essen gibt. Dass ich meine Pommes ohne Angst essen kann und mich nicht um mein körperliches oder geisltiches Wohl sorgen muss. Dass ich weiß, ein sicheres Zuhause zu haben, wo ich mir ohne Schwierigkeiten selbst Pommes machen kann. Trotzdem ist Frieden mehr als Pommes. Frieden ist das Wichtigste und ich bin dankbar, dass ich diesen Frieden erleben darf!“