Quellen

Das Buch des Herrn
Das Evangelium ist das Buch des Lebens des Herrn
und ist da, um das Buch unseres Lebens zu werden.
Es ist nicht da, um verstanden,
sondern um wie eine Schwelle zum Geheimnis angenähert zu werden.
Es ist nicht da, um gelesen,
sondern um in uns aufgenommen zu werden.
Jedes seiner Worte ist Geist und Leben.
Behende und frei warten sie nur auf die Begierde unserer Seele,
um in sie einzuströmen. Selber lebendig sind sie wie der ursprüngliche Sauerteig,
der unseren Teig angreifen und haben will in der Art eines neuen Lebens.
Die Worte der menschlichen Bücher werden verstanden und geistig erwogen.
Die Worte des Evangeliums werden erlitten und ausgehalten.
Wir verarbeiten die Worte der Bücher in uns,
die Worte des Evangeliums durchwalken uns,
verändern uns, bis sie uns gleichsam in sich einverleiben.
Die Wortes des Evangeliums sind wundertätig.
Sie verwandeln uns nur deshalb nicht,
weil wir die Wandlung nicht von ihnen begehren.
Aber in jedem Ausdruck Jesu,
in jedem seiner Beispiele wohnt eine überwältigende Kraft,
die damals heilte, reinigte, auferweckte,
falls einer ihm gegenüberstand wie der Gelähmte oder der Hauptmann,
bereit, unverzüglich im vollen Gehorsam zu handeln.
Im Evangelium Jesu gibt es Stellen,
die beinah völlig geheimnisvoll bleiben.
Wir wissen nicht, wie ihnen Eingang verschaffen in unserem Leben.
Andere hinwieder sind unerbittlich klar.
Nur kindliche Treue zu dem von uns Begriffenen
wird uns zum Verständnis dessen führen, was geheimnisvoll bleibt.
Sind wir auch berufen, zu vereinfachen, was uns kompliziert scheint,
so doch niemals zu komplizieren, was einfach ist.
Wenn Jesus uns sagt: “Fordere nicht zurück, was du geliehen hast” -
oder: “Ja, ja, nein, nein, alles übrige ist vom Argen”,
dann ist nichts als Gehorsam verlangt...
Räsonieren wird uns nicht weiter helfen.
Hilfe wird uns nur, wenn wir das Wort im Warmen unseres Glaubens und Hoffens tragen,
das Wort, dem wir gehorchen wollen, “hegen”.
Dann wird sich zwischen ihm und unserem Willen
eine Art Lebensbündnis herstellen.
Wenn wir unser Evangelium in Händen halten,
sollten wir bedenken, dass das Wort darin wohnt,
das in uns Fleisch werden will, uns ergreifen möchte,
damit wir - sein Herz auf das unsere gepfropft,
sein Geist dem unseren eingesenkt -
an einem neuen Ort, zu einer neuen Zeit, in einer neuen menschlichen Umgebung
sein Leben aufs neue beginnen.
Wer sich dergestalt in das Evangelium vertieft, verzichtet auf das eigene Leben,
um ein Schicksal zu empfangen, das Christus zu seiner alleinigen Form hat.
Madeleine Delbrêl
(aus: Gebet in einem weltlichen Leben, Freiburg 2005)
Dem Evangelium einen herzlichen Empfang bereiten
Das Wort Gottes trägt man nicht in einem Köfferchen bis zum Ende der Welt:
Man trägt es in sich, man nimmt es in sich mit auf den Weg.
Man stellt es nicht ein eine innere Ecke, in einen Winkel des Gedächtnisses,
um es aufzuräumen wie in das Fach eines Schrankes.
Man läßt es bis auf den Grund seiner selbst sinken, bis zu dem Dreh- und Angelpunkt,
in dem sich unser ganzes Selbst dreht.
Missionar sein kann man nur, wenn man dem Wort Gottes, dem Evangelium,
in sich selbst einen offenen, weiten, herzlichen Empfang bereitet hat.
Der lebendige Drang dieses Wortes geht dahin, Fleisch zu werden,
Fleisch zu werden in uns. Und wenn wir so von ihm bewohnt sind,
dann sind wir dafür geeignet, Missionare zu werden.
Diese Menschwerdung des Wortes Gottes in uns, diese Einwilligung,
uns von ihm modeln zu lassen, das nennen wir Zeugnis geben.
Madeleine Delbrêl
(aus: Schleinzer, Gott einen Ort sichern, Kevelaer 2013)
„… da bin ich mitten unter ihnen!“
Jesus in der Mitte hat in mir eine unendliche Leidenschaft erweckt, ihm tausend, zigtausend, Millionen von Kirchen zu bauen, nicht aus Steinen, sondern aus zwei oder drei Menschen, die in seinem Namen eins sind, verstreut über die ganze Welt. Mag sein, dass in der Zukunft große Schwierigkeiten auf die Kirche zukommen. Ich weiß es nicht. Aber wir dürfen keine Angst haben, gerade aus diesem Grund. Denn wo zwei oder drei diesen Satz des Evangeliums ganz leben, da ist Jesus in ihrer Mitte, und er kann in die Fabriken hineinkommen, in die Schulen, in die Häuser, überallhin, um so die Kirche präsent zu machen.
Der Gedanke, mit Jesus, seiner Person in unserer Mitte, eine Unmenge von Kirchen erbauen zu können, dieser Gedanke fasziniert mich heute mehr als alles. Und ich möchte euch allen davon mitteilen, so dass ihr wisst, dass der Reichtum, den wir in Händen haben, unendlich ist. Auch wenn jemand von außen es vielleicht nicht verstehen kann - aber ihr, ihr versteht es.... Ihr wisst, was es bedeutet, denn ihr seid schon andere Male von Jesus in der Mitte geführt worden. Er hat euch vorangebracht. An ihm war es, euch das Licht zu geben, alle Tränen zu trocknen, alle Schmerzen von euch zu nehmen, alle Ängste, jede Versuchung. Es ist es gewesen, Jesus in der Mitte, euer Licht.
Chiara Lubich
„Hört das Wort nicht nur an, sondern tut es; sonst betrügt ihr euch selbst!“ (Jak 1,22)
Durch das Leben des Wortes (des Evangeliums) kommen wir in eine direkte Beziehung mit Jesus. Wenn wir über einen längeren Zeitraum das Wort leben, wächst daraus eine dauerhafte Beziehung zwischen ihm und uns. Diese Beziehung ist für mich im gegenwärtigen Augenblick – auch jetzt – spürbar vorhanden. Wenn ich aber einmal aufhöre, das Wort zu leben, habe ich das Empfinden, überhaupt nicht mehr zu leben.
Entweder ich bin das Wort oder ich bin nicht. Ohne das Wort lebt in mir nur mein eigenes Ich; alleine aber bin ich „nichts“. Lebe ich hingegen das Wort, dann ist Christus da und lebt in mir.
Seit Jahren bemühe ich mich darum, den ganzen Tag über das Wort gegenwärtig zu haben, sei es beim Essen, beim Arbeiten, im Gespräch, bei der Erholung und selbst beim Schlafen in der Nacht. Alles, was während des Tages für mich zu tun ansteht, verstehe ich als das, was Gott jetzt von mir will. Dazu bringt mich das Wort und auf diese Weise bin ich in ständiger Beziehung mit Jesus, dem WORT.
Das heißt nicht, dass es immer gelingen wird, so zu leben. Dann wäre man ja bereits vollkommen. Aber es ist die grundsätzliche Ausrichtung meines Lebens. Ich liebe das Wort so sehr, dass ich mich vollständig mit ihm identifizieren, mich in es verwandeln möchte. Wenn man mich fragt: Wer bist du eigentlich? dann möchte ich antworten können: „Wort Gottes!“
Chiara Lubich
(aus: Chiara Lubich, Wort des Lebens, München 1983)
"Landstreicher Gottes"
Wenn man die Geschichte der Kirche anschaut, zumindest die Geschichte der Heiligen, so sieht man, dass die Kirche als Ganze das Leben nach dem Evangelium übernimmt und dass eine religiöse Gemeinschaft als Ganze ihre Berufung aus einer bestimmten Gebärde Jesu Christi ableitet. Der Herr hat Blinde geheilt, also wird es eine Kongregation geben, die sich um die Blinden kümmert. Der Herr hat die kleinen Kinder aufgenommen, also wird es Gemeinschaften geben, die sich im Namen Christi ganz den kleinen Kindern widmen.
Inmitten von all dem gibt es aber auch die ganze Kirchengeschichte hindurch so etwas wie „Landstreicher“ (das Wort fällt mir jedenfalls dazu ein), die immer unterwegs sind auf den Straßen; die den Weg Christi eingeschlagen haben, nicht um etwas Bestimmtes zu tun oder etwas von A bis Z zu erledigen, sondern um den ganzen Weg entlang die Gebärden Christi zu vollziehen.
Sie erwarten von Gott die kleinen Gelegenheiten und Ereignisse, bei denen sie stets im Dienst der „Frohen Botschaft“ sind. Einer frohen Botschaft, die sinnlich greifbar wird durch die Güte Christi, durch ihre Ausdrucksformen; einer frohen Botschaft, die man berührt hat, wie Johannes sagt, die man angefasst hat, weil sie durch menschliche Gebärden vermittelt wurde. Gebärden von Menschen, die sich ihre Begegnungen nicht aussuchen, die nicht selbst wählen, wohin sie gehen sollen, die annehmen, was Gott ihnen schickt: was und wen. Menschen, die versuchen, unaufhörlich versuchen, für jeden und jede das zu sein, was Christus gewesen ist.
Es gibt die großen „Landstreicher“: Franz von Assisi, die ersten Trupps der Dominikaner, Benedikt Labre, Katarina von Siena – man könnte sicher noch Dutzende finden. Sie haben keine Generalstabskarte, sie folgen den kleinen Saumwegen. Sie fragen den Herrn nicht, wo sie morgen sein werden, weil sie ohnehin eine Verabredung mit ihm haben werden- Christus ist nämlich selber ihr Weg.
Madeleine Delbrêl
(aus: Schleinzer, Gott einen Ort sichern, Kevelaer 2013)
"Im Innersten"
Der Mensch ist dazu berufen,
in seinem Innersten zu leben
und sich selbst so in die Hand zu nehmen,
wie es nur von hier aus möglich ist;
nur von hier aus ist auch die rechte Auseinandersetzung mit der Welt möglich;
nur von hier aus kann er den Platz in der Welt finden, der ihm zugedacht ist.
Edith Stein