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Die Gnade des anvertrauten Leids

Lange hatten wir uns nicht gesehen. Es gab so viel zu erzählen und viel Schweres zu teilen. Die Zerrüttung  in ihrer Familie hatte noch keinen guten Weg gefunden. Eine schwere unvermutete psychische Krankheit war bei einer nahen Verwandten aufgetreten. Ihr Mann war arbeitslos geworden und kam mit diesem Schicksal nicht zurecht. Körperlich hatte sie auch zu kämpfen. Mehr und mehr spürte sie, wie sie sich über Jahre um Dringlichkeiten und Notwendigkeiten ihrer Familie gekümmert hatte und so keine Zeit dazu gefunden hatte, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Auch diese Erkenntnis tat weh!  Ich merkte, wie gut es ihr tat, all das erzählen zu können und damit auf die Schultern eines brüderlichen Herzens zu legen. Dann waren wir auseinandergegangen. “Vielleicht sehen wir uns ja nochmals, bevor Du  zurückfliegst!” Dieser fast flehentliche Ruf blieb mir im Herzen. Nach Tagen voller Arbeit nahte mein Rückflug. Eine Stunde vorher würde ich es noch schaffen, bei ihr vorbei zu schauen. Eine Tasse Tee war schnell bereitet. Wir saßen am Tisch. “Weißt du?”, begann sie unvermittelt, “oft fühle mich so allein, so einsam und verlassen. Oft weiß ich gar nicht mehr weiter. Ich kenne nur wenige Menschen, die so viel Schweres durch zutragen haben, wie mein Mann und ich. Könnte es nicht mal ein Jahr geben, was mir ein wenig Ruhe und Hoffnung bringt?” Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ich öffnete mein Herz so weit ich konnte, um all diesen Schmerz in mich hinein zu nehmen. Ich schwieg lange. Immer mehr erzählte sie. Der Raum zwischen uns war offen... Dann mußte ich aufbrechen - zum Flughafen. Sie brachte mich hin. “Oh, wie gut es tut, Dir das alles sagen zu können!” sagte sie. “Und während ich Dir das alles anvertraut hab, was ich überhaupt nicht geplant hab, spürte ich, dass es noch unter dieser Einsamkeit und unter diesem Alleinsein etwas gibt, was mir sagt: ‘Du bist nicht allein!’ Da ist Gott. Ja, Jesus, den ich oft nicht spüre, er läßt mich nicht allein!. Aber ich habe es erst wieder gespürt, als ich Dir meinen Schmerz erzählt hab!”