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"Ich komme nochmal wieder"

„Und weißt du schon, was du nach der Schule machen willst?“ frage ich eine Schülerin, die kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit steht. „Keine Ahnung!“ - „Hast du schon eine Idee, wo du mal ein Praktikum machen könntest, was dich interessiert? – „Keine Ahnung!“ – „Wäre dann vielleicht ein FSJ für dich eine willkommene Zeit, um etwas Neues kennen zu lernen?“ – „Keine Ahnung!“

Diese Begegnung ergab sich während der Libori-Tage am Tiny House vor dem Domturm in Paderborn. Ich war längere Zeit im Gespräch mit dieser jungen Frau geblieben und hatte versucht, ihr Perspektiven aufzuweisen, die ihr weiterhelfen könnten, in ihr Leben zu starten. Als das Eis, auf das ich sie eingeladen hatte, fast aufgegessen war, hatte sie mich angeschaut und gesagt: „Weißt du, wenn ich ehrlich bin, möchte ich gar nicht erwachsen werden. Ich habe Angst davor!“

„Toll, dass Sie so engagiert und profiliert für diese jungen Menschen unserer Zeit unterwegs sind und sich so viel Zeit nehmen für sie und hier in Paderborn auf Libori stehen!“ ließ uns am nächsten Tag Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz verstehen. Er war gekommen, um sich über das Netzwerk go4peace und den Projektweg navi4life zu informieren. So stellten wir ihm im Schnelldurchlauf 9 Module vor, die wir anbieten, um jungen Menschen zu helfen, ins Leben zu finden. Dazu gehören die drei Logbücher Mein Leben – windschief und glänzend, Mein Glaube – bunt und stürmisch und Mein Weg – lückenlos und kurvenreich, und weiterhin drei Erläuterungs- und Vertiefungs-module. „Und wie ist das alles entstanden?“ wollte Erzbischof Bentz wissen.

Ich erzählte von einigen Begegnungen mit Jugendlichen, in denen immer wieder das Gefühl des Verlorenseins ins Gespräch kam. Trotz – oder gerade wegen einer Überfülle an Möglichkeiten und wegen eines hohen Perfektionsdrangs, alles gut und richtig machen und nur das Beste wählen zu wollen, fühlen sich viele junge Menschen verloren und überfordert. „Und auf diese Lebenswirklichkeit junger Menschen, durch die ja Gott zu uns spricht, reagieren wir mit der Projektlinie navi4life!“ ließ ich Erzbischof Bentz wissen. „Ich muss jetzt schnell zum Mittagsgebet in die Bartholomäus-Kapelle, aber ich komme gleich nochmals wieder, denn ich habe noch ein paar Fragen!“ sagte er.

Als wir eine halbe Stunde später erneut zusammen waren, präsentierten wir ihm auf dem großen Bildschirm am Tiny House eines der Vertiefungsvideos, in dem Amela aus Graz erzählt, wie sie versteht, wann und ob eine Entscheidung für ihr Leben richtig ist. „Ich stelle mir vor, ich hätte die Entscheidung schon getroffen und achte dann auf mein Herz. Wenn ich Gelassenheit, echten Frieden und eine tiefe Freude in mir spüre, dann weiß ich, dass die Entscheidung richtig ist!“

„Das ist wirklich ein Projekt, um jungen Menschen zu helfen, in ihr Leben zu finden! Ich bin tief beeindruckt! Nochmals DANKE für Ihre Arbeit und Ihre Zeit!“ ließ Erzbischof Bentz das kleine Team von go4peace wissen, das über eine halbe Stunde Zeit mit ihm geteilt hatte.

Einen Tag zuvor hatten wir in der Marktkirche in Paderborn ein beeindruckendes Dialogkonzert leben und erleben dürfen. Amelie Held aus New York hatte auf fünf Interviews mit jungen Menschen mit je einem Stück aus der Orgelliteratur geantwortet. Wenn auch die Orgel in der Marktkirche keinen adäquaten Rahmen bot, ihr wirkliches Können zu zeigen, so holte sie doch all das aus dem Instrument heraus, was möglich war und bestärkte damit die jungen Protagonist*innen für ihren Weg. Im Interview hatte Amelie ein Zitat des berühmten Dirigenten Mariss Jansons ins Wort gebracht: „Wenn Gott einem Talent geschenkt hat, muss man sich durch harte Arbeit dafür bedanken!“ Dass sie hart gearbeitet hatte, wurde bei allen von ihr intonierten Orgelstücken deutlich.

Auch Amela Mraja aus Graz (geboren in Albanien), Julian Odelga aus Wuppertal, Filmon Hagos aus Dortmund (geboren in Eritrea) und Viktoria Kosmalla aus Braunschweig nahmen die Zuhörenden mit auf ihre Lebenswege. Jeder hatte viel riskiert, galt doch das Wort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! „Ich bin bei einer Prüfung drei Mal durchgefallen und hatte nur noch eine Chance, sonst hätte ich in mein Heimatland zurückgehen müssen. Ich hab ganz viel gelernt und wirklich alles riskiert!“ ließ sich Amela in die Seele schauen.

Filmon erzählte, wie er als junger Flüchtling in Deutschland eine zweite Mutter gefunden hat. Eine junge Afghanin, die mit einer älteren Freundin zum Konzert gekommen war, hatte die gleiche Erfahrung gemacht. „Als ich bei dem Orgelstück von Johann Sebastian Bach Wenn wir in höchsten Nöten seien meiner Freundin leise gesagt habe ‚Wie bei uns!‘ kamen uns beiden die Tränen.“ Abends schrieb mir die Freundin der Asiatin: „Eine junge, verletzliche Frau war als Flüchtling aus einer anderen Welt zu uns gekommen. Gott hatte sie mir an mein Herz gelegt! Während des Orgelkonzertes spürten wir diese tiefe Verbundenheit. Es war einer dieser Momente der Ewigkeit, in der Jesu Nähe so intensiv spürbar war, dass ich ihn nie vergessen werde.“

Nach dem Konzert schrieb eine Zuhörerin: „Was für ein Geschenk, dieses so gelungene Dialog- Konzert! Es bleib für mich ein unvergessliches Erlebnis! Die Orgelvirtuosin Amelie Held verdient ihren Namen vollkommen zurecht, und die Lebensgeschichten der fünf jungen Leute waren beeindruckend und berührend. Dazu die einfühlsame Moderation, alles in allem ein Gesamtpaket, das Balsam für die Seele war. Vielen Dank für diesen besonderen Nachmittag!“ Am Ende des Konzertes gab’s für jeden noch einen leuchtend roten Schuhanzieher mit der aufgedruckten Botschaft. „Steh auf und geh los!“

Und dann saß am vorletzten Tag ein junges Mädchen mit einer Portion Pommes in der Nähe des Tiny Houses. Mit einem Lächeln im Gesicht ging ich zu ihr, hielt ihr einen Friedensstift mit der Aufschrift „Sei Friedensstifter*in!“ hin und sagte: „Beim Pommes-Essen kommen mir immer die besten Friedensgedanken. Hier ist ein Stift, mit dem du all deine Gedanken auf die Serviette schreiben kannst.“ Lächelnd nahm sie den Stift entgegen. Einige Minuten später kam sie zu mir ans Tiny House und überreichte mir strahlend ihre Serviette auf die sie geschrieben hatte: „Frieden bedeutet z.B., dass ich Pommes essen kann und es genug Essen gibt. Dass ich meine Pommes ohne Angst essen kann und mich nicht um mein körperliches oder geistliches Wohl sorgen muss. Dass ich weiß, ein sicheres Zuhause zu haben, wo ich mir ohne Schwierigkeiten selbst Pommes machen kann. Trotzdem ist Frieden mehr als Pommes. Frieden ist das Wichtigste und ich bin dankbar, dass ich diesen Frieden erleben darf! “

Über 3000 Begegnungen haben wir am Tiny House erleben und viel Lob für die Logbücher hören dürfen. Viel Leidvolles und Hoffnungsvolles ist uns anvertraut worden. Neue Kontakte zu Lehrern und Lehrerinnen, die uns mit dem Projekt navi4life an ihre Schulen holen wollen, sind geknüpft worden. Ebenso stehen ein Besuch in einem Jugendgefängnis und bei einem Polizei- Kommissar, der mit straffällig gewordenen Jugendlichen arbeitet, an. Gott ist am Werk, das können wir wieder neu bezeugen. Er nimmt uns als Sauerteig für eine Welt, die Sehnsucht nach echtem Leben hat und ER ist das Leben (vgl. Joh 14,6). Sein Ideen-Reichtum toppt den unsrigen immer wieder!

Als wir nach 10 Tagen „auf Libori“ Paderborn wieder verließen, sah ich vor meinem inneren Auge den Blick des Mädchens, die mir anvertraut hatte: „Ich habe Angst davor, erwachsen zu werden!“ Zugleich fiel mein Blick auf den Schuhlöffel im Wagen mit der Aufschrift: „Steh auf und geh los!“ Ich betete für die Schülerin, dass sie den Mut findet, aufzustehen und loszugehen, denn nur so verwirklicht sich (lückenlos) der Titel des Logbuches 3: Mein Weg – lückenlos und kurvenreich.